Was ist Health At Every Size (HAES)?

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Hast du dir beim Anblick einer mehrgewichtigen Person schon einmal gedacht: „Naja, selber schuld … wundert mich nicht, dass der*die so viel wiegt. Wird ständig nur am Essen sein und sich nicht bewegen. Abzunehmen und nicht so faul zu sein wäre gut.“

Oder bist du selbst mehrgewichtig und dich plagen Gedanken wie: „Warum können alle abnehmen nur ich nicht? Sogar mein*e Mediziner*in und mein Freundeskreis raten mir ständig Gewicht zu verlieren“.

fat shaming

Oft werden derartige Gedanken jedoch nicht für sich behalten, sondern der betroffenen Person direkt ins Gesicht gesagt. Wenn dies der Fall ist, sprechen wir vom sogenannten fat shaming. Es beschreibt die offene Beleidigung (nicht immer als Beleidigung gemeint wohlgemerkt) bzw. das Thematisieren des Gewichts betroffener Personen1. Leider sind sich die meisten Menschen dabei nicht bewusst, welche zahlreichen negativen und vor allem gesundheitlichen Folgen eine derartige Handlung mit sich führt.

„Wir leben in einer fettphobischen Welt, gekennzeichnet von aktivem, gesellschaftlich sanktioniertem Dickenhass.“ – Elisabeth Lechner2

Gewichtsstigmatisierung und ihre negativen Folgen

Die Stigmatisierung des Körpergewichts nimmt erheblichen Einfluss auf psycho-sozialer Ebene. Das Risiko betroffener Personen für psychische Erkrankungen (z.B. Depression, Essstörungen, Angstzustände) steigt aufgrund sozialer Ausgrenzung und vermindertem Selbstwertgefühl stark an3,4,5,6.

Die Auswirkungen von fatshaming beeinflussen jedoch nicht nur das psychische Wohlbefinden, sondern spiegeln sich auch im Gesundheitsverhalten wider. Die Motivation, sich sportlich zu betätigen verringert sich (es gibt keinen sicheren Ort dafür, es existiert kein Safe Space), das Ernährungsverhalten verschlechtert sich zunehmend (Anstieg von Diäthalten, emotionales Essen, Heißhungerattacken, unkontrollierte Essanfälle) und Vorsorgeuntersuchungen bzw. anderweitige medizinische Konsultationen werden lediglich zaghaft in Anspruch genommen7,8,9, da Mediziner*innen/Therapeut*innen in erster Linie das Gewicht als Ursache nennen und dem eigentlichen Grund der Krankheit nicht mehr weiter auf den Grund gehen.

Nicht zu unterschätzen sind zudem die physischen Reaktionen im Körper Betroffener. Durch dieses Stigma entsteht chronischer Stress, wodurch das Hormon Cortison rasant ansteigt und somit eine Gewichtszunahme lediglich verstärkt10. Ein Teufelskreis entsteht, aus dem die Flucht immer schwieriger erscheint. Die Gewichtsdiskriminierung erhöht die Wahrscheinlichkeit mehrgewichtig zu werden bzw. zu bleiben11.

Diskriminierende Aussagen, wie einleitend beschriebene, sind also weder zielführend noch nützlich, sondern ziehen gravierende Folgen auf psychischer und physischer Ebene mit sich.

„Das Einzige, was irgendjemand mit Gewissheit feststellen kann, wenn er*sie eine dicke Person ansieht, ist der Grad seiner*ihrer eigenen Stereotype und Vorurteile gegenüber dicken Menschen.“ – Marilyn Wann, Fat Activistin12

Übergewicht ist ein Symptom, KEINE Ursache

Wer schlank ist, ist erfolgreich, willensstark und gesund. Dicke Menschen hingegen haben keine Willenskraft bzw. leben ungesund und können demnach auch nicht erfolgreich sein. Das ist jedenfalls das gängige Bild unserer Gesellschaft.

Zählen dünne Menschen Kalorien, folgen selbstauferlegten restriktiven Ernährungsregeln und betreiben exzessiv Sport, rät man ihnen sich in Therapie zu begeben (Essstörung!). Bei dicken Menschen wird ein derartiges Verhalten jedoch mit Komplimenten und gutem Zuspruch weiterzumachen bestätigt. Ist das nicht grotesk?! Durch solch absurde Gewichtsstigmatisierungen wie die eben beschriebenen, wird mehrgewichtigen Menschen das Gefühl vermittelt, ständig zu versagen.

Von Versagen oder Willensschwäche kann bei Mehrgewicht jedoch keinesfalls die Rede sein, werden die zahlreichen Faktoren berücksichtigt, welche sich auf unser Körpergewicht auswirken:

  • Ernährung / Bewegung13,14
  • Alter14
  • Geschlecht13
  • Genetik13,14
  • Ethnizität14
  • Gewichtsstigmatisierung15
  • Diäten / Weight Cycling16
  • sozioökonomischer Status14
  • Wohnort13
  • Schlaf13
  • Alkohol, Zigaretten15
  • Umfeld13
  • Familie, Kultur13,14
  • Essstörungen13
  • Stress13
  • Medikamente13,14
  • Krankheiten13
  • pränatale Faktoren14
  • Stoffwechsel14
  • Mikrobiom16

Also einfach nur zu sagen: iss weniger und mach mehr Sport um das „Symptom“ Übergewicht zu bekämpfen ist nicht zielführend. Wenn, dann müssen die Ursachen genauer unter die Lupe genommen werden und an richtiger Stelle Hilfe angeboten werden! Wir brauchen Ursachenbekämpfung, keine Symptombekämpfung! Mehr dazu in den letzen zwei Absätzen.

Unsere Besessenheit vom Körpergewicht

Wir alle werden im Laufe unseres Lebens auf Körpergewicht und Aussehen sozialisiert. Unsere eigenen Normvorstellungen unseren Körper betreffend, werden vom gesellschaftlichen Bild der Schönheitsideale geprägt. Die Diätindustrie schürt dieses Feuer zunehmend, indem sie uns mit den Normvorstellungen lockt, die wir mit ihrer Hilfe (Diätshakes, Detoxkuren, Abnehmpillen, Adipositasspritzen, Diät XY, …) erreichen sollen. So weit kommt es allerdings in den seltensten Fällen (95% aller Diäten scheitern, erneute Gewichtszunahmen sind die Folge17), denn unser Körper lässt sich auf Dauer nicht aushungern. Heißhungerattacken, Binge Eating (Essanfälle), emotionales Essen und Essstörungen sind mögliche Folgen. Der Diätindustrie ist das herzlich egal. Sie verdient „gutes“ Geld an uns und muss nichts weiter tun, als zu präsentieren, wie wir aussehen wollen. Bis 2023 verdient die Diätindustrie €233 Milliarden an uns17.

Gesundheit, unabhängig vom Körpergewicht

Wenn wir anstelle der ständigen Gewichtsmanipulation versuchen MIT unserem Körper und seinen Bedürfnissen zu arbeiten und nicht mehr GEGEN ihn, kann schrittweise ein gesundheitsorientiertes Verhalten etabliert werden. Dieses führt langfristig zu psychischen und körperlichen Wohlbefinden und der Körper findet schließlich sein natürliches Sollgewicht von selbst. Auch bekannt als Health At Every Size (HAES)18.

Die Hauptkomponenten von HAES sind:

  • Respekt: feiere die Vielfalt der Körperformen und -größen und akzeptiere die Unterschiede zwischen Herkunft, Alter, Geschlecht, Religion, körperlicher Einschränkungen usw.
  • Kritisches Bewusstsein: hinterfrage Glaubenssätze und Wertvorstellungen und vergleiche sie mit kulturellen Idealvorstellungen
  • Mitfühlende Selbstfürsorge: etablierte Freude an körperlicher Aktivität und eine genussvolle, ausgewogene Ernährung ohne Schuldgefühle

Das Körpergewicht ist KEIN Indikator für Gesundheit, ein gesundheitsförderndes Verhalten allerdings sehr wohl. Regelmäßige sportliche Bewegungen, eine ausgewogene Ernährung, mäßiger Konsum von Alkohol sowie Nichtrauchen, wirken sich in einer Studie positiv auf die Gesundheit mehrgewichtiger Proband*innen aus, ganz unabhängig von ihrem Körpergewicht19.

Wie kann dieses gesundheitsfördernde Verhalten nun umgesetzt werden?

Verabschiede dich endgültig von Diäten und dem Wunsch dein Körpergewicht manipulieren zu wollen. Lerne intuitiv zu Essen und vertraue wieder auf deine Hunger- sowie Sättigungssignale. Betreibe Selbstführsorge und stelle deine Bedürfnisse zukünftig an die erste Stelle. Greife auf Emotionsregulationsstrategien zurück, die nichts mit essen zu tun haben. Finde Freude an Bewegungsformen die dir wirklich Spaß machen und ernähre dich frei von jeglichen Diäten oder Ernährungsverboten, ohne Schuldgefühle, dafür ausgewogen, mit Genuss und Zufriedenheit.

Quellen

[1] Adebahr & Lehmann, 2017

[2] Lechner, 2021

[3] Durso et al., 2012

[4] Westermann et al., 2015

[5] Puhl & Heuer, 2009

[6] Sjöberg et al., 2005

[7] Drury et al., 2002

 

[8] Puhl & Brownell, 2006

[9] Sykes & McPhail, 2008

[10] Tomiyama, 2014

[11] Suiten & Terracciano, 2013

[12] Marilyn Wann in Lechner, 2021

[13] U.S. Department of Health and Human Services, 2018

 

[14] National Academy of Sciences, 2003

[15] Tomiyama et al., 2018

[16] O’Hara & Taylor, 2018

[17] Tribole & Resch, 2020

[18] Linda Bacon, 2008

[19] Matheson et al., 2012

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2 Comments

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